Virtueller Besuch in England, heute: Standen House.

„Tucked away“ irgendwo bei East Grinstead, abseits der Sussex-Kent Landesgrenze, am Rande des Ashdown Forest, wo Winnie Puh und seine Freunde Stöckchen von der Brücke werfen, da liegt Standen House, ein wahrhaft ungewöhnliches Objekt der kunsthistorischen Begierde.

Ich erinnere mich noch an meine ersten Suchen nach Häusern in diesem sehr vertrauten Umkreis und landete immer wieder bei Standen. Aber das Foto in dem Guidebook des National Trust sprach mich nicht an, es sah mir mit seinem kalkverputzten Wasserturm zu modern und „mechanisch“ aus.

Aber dann, eines schönen Frühlingsmorgens, sollte Standen House uns beweisen, dass es durchaus ein lohnenswertes Ziel für einen Ausflug ist, noch dazu ein wirklich beeindruckendes!

Standen House ist noch nicht wirklich sehr alt, obwohl sein Standort bereits im Mittelalter eine Farm war und das alte Farmhaus noch immer Teil des Anwesens ist, ja, sogar ganz bewusst integriert wurde. Das gesamte Anwesen liegt am Ende eines schmalen Weges, umsäumt von dichtem Grün, vorbei an einer steinbruchartigen Felswand. Am Ende wartet ein weitläufiger Dreiseitenhof mit einer großen Rasenfläche unter uraltem Baumbestand. In meiner Fantasie schleppe ich schon einen kleinen verpilcherten Teetisch unter die Platanen… Das alte Farmhaus bildet den optischen Mittelpunkt dieses Ensembles, die Stallungen und Scheunen zur rechten gliedern sich harmonisch in dieses Idyll ein. Zur linken steht ein Teil vom großen Haus, der sich aber kleinteilig in dem alten Torhaus verliert und nicht mehr an Aufmerksamkeit erwartet.

 

 

 

Der Parkplatz befindet sich einige Meter hinter dem Hof, so dass sich beim Zurücklaufen der eingezäunte Bauerngarten offenbart, der dem Hof vorliegt.

 

 

Der Zugang zum Haus erfolgt durch den Haupteingang, doch dieser ist auf den ersten Blick nicht zu entdecken. Erst beim Durchschreiten des alten Torhauses eröffnen sich die Dimensionen, die sich ganz bescheiden hinter dem alten Farmbestand ausbreiten. Denn plötzlich stehen wir auf einem kleinen Innenhof, in dem ein stattlicher, aber nicht protziger Eingang auf uns wartet. Die Fassade fängt symmetrisch an, aber endet dann in einem geplanten Zusammenwurf von einem steinernen Mittelrisalit mit Windfang und einem runden Erkerfenster direkt daneben, geflickt mit plötzlicher Bleiverglasung inmitten der klassischen Holzrahmenschiebefenster! Was wild klingt, passt am Ende doch stimmig zusammen.

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©misskatesblog Der Haupteingang zum Haus

In der linken Ecke steht jener verputzte Wasserturm, daneben ein Stück, welches dem alten Torhaus zu entspringen scheint, aber dem Mauerwerk nach zum großen Haus gehört. Der Giebel ist landestypisch mit Holzlatten verkleidet, durch die Jahre ins Gräuliche verwittert.

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Die linke Ecke des Innenhofes mit dem Haupteingang. Aufnahme aus dem Guide Book.

Diese ganze Ansicht erweckt den Eindruck, als wäre sie in mehreren Epochen gebaut und verändert worden. Bald würden wir es genauer wissen.

An der Tür wurden wir von einem freundlichen älteren Herrn begrüßt, der uns direkt in die Geschichte des Hauses einweiht. Zwei junge Damen in Kulturlaune, noch dazu die ersten Besucher des Tages, das muss in ihm seinen Feuereifer entfacht haben. In etwa fünfzehn Minuten erfahren wir die wichtigsten Dinge zum Haus und zu der Familie, die es erbauen ließ.

Hier die Kurzfassung (12 Minuten):

Standen House wurde 1891 von dem Architekten Philip Webb entworfen, für die Beale- Familie, die, mit sieben Kindern gesegnet, ein neues und komfortables Zuhause brauchten. Vater Beale war ein erfolgreicher Anwalt in London und ein enger Freund des Architekten. 1894 war das Haus fertig und Beales konnten einziehen. Das besondere an diesem Haus ist jedoch, dass es unter dem feinen Auge des Architekten Webb in der Epoche des „Arts and Crafts Movement“ entstanden ist. Die Arts and Crafts -Bewegung ist Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, als Reaktion auf die immer ausgeprägtere Industrialisierung. Das Handwerk wurde mechanisiert, die Massenproduktion stieg. Quasi der Anfang der Wegwerfgesellschaft! Im Arts-and-Crafts Movement besannen sich die Künstler und Architekten zurück zum ursprünglichen Handwerk. Ein weiteres Merkmal ist „form follows function“, saloppsprich: Ein Raum wird nur dahin gesetzt, wenn er an dieser Stelle auch wirklich gebraucht wird! Das erklärt bei vielen Arts-and-Crafts -Häusern übrigens auch die verwinkelten Grundrisse, abseits jeglicher Symmetrie. Ein wichtiger Name in dieser Bewegung ist der Architekt und Designer William Morris (1834-96). Morris war Mitbegründer des Movements und legte gesteigerten Wert auf die Handwerkskünste des Mittelalters, als Ideale zur gegensätzlichen modernen Industrieproduktion. Morris wurde außerdem für seine floralen und naturalen Muster bekannt. Seine prägnanten Muster zieren auch heute noch viele Sofakissen und Einkaufsbeutel und gehören unwiderbringlich zum britischen Mustermix.

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©misskatesblog Eine typische Arts-and-Crafts Tapete im Haus.

 Philip Webb als Freund und Kollege von Morris legte großen Wert auf die handwerklichen Kunstfertigkeiten. Er hat zwar nicht viele Häuser gebaut, hat aber dafür bei seinen Projekten höchste Sorgfalt an den Tag gelegt und jedes Element persönlich nach Arts-and-Crafts Art entworfen. So auch bei Standen House. Dieses Haus wurde nicht, wie viele andere Landsitze in England, zum Beeindrucken und Unterhalten von wichtigen Gästen gebaut, es war das Zuhause einer großen Familie. Es erfüllt seinen wohnlichen Zweck in großzügigen Ausmaßen, gut, es sollten schließlich zu Hoch-Zeiten etwa 19 Beales darin Platz finden!! Die letzte überlebende Tochter des Herrn Erbauers Beale, Helen, blieb unverheiratet und wohnte bis zu ihrem Tod 1972 in Standen House. Dann vermachte sie das Anwesen dem National Trust.

Standen schmiegt sich in seine umgebende Landschaft, mit Aussicht auf den Ashdown Forest.

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Die Gartenansicht. Eine Schön-Wetter-Aufnahme vom Guide Book.

Der Wasserturm bleibt der markante Teil des Gebäudes und sticht wahrlich hervor. Sein Außenputz soll den exponierten Turm vor allem vor den Elementen schützen, fällt aber in der gesamten Fassadengestaltung völlig aus dem Rahmen! Der Turm wird mit einer Aussichtsterrasse gekrönt, einem sogenannten Belvedere. Von allen Seiten ist das Haus ein regelrechtes Konglomerat aus Winkeln, Ecken, Giebeln und Spitzen, ergeben aber nach außen eine harmonische Einheit. Standen kleidet sich mit lokalen Baumaterialien wie Sandstein (aus dem eigenen Steinbruch, siehe Zufahrt!), Ziegelsteinen und Eichenholz. Bei dieser verspielten Fassade wird wieder die kindliche Fantasie (Fünf-Freunde-Modus) angeregt und man möchte sofort erforschen, welches Fenster zu welchem Zimmer gehört! Wie leicht ließe sich in so einem verwinkelten Haus eine Geheimkammer einflechten…!!

Wir stehen noch immer im Windfang und lauschen interessiert dem freundlichen Herrn, der sich bestimmt nun erstmal eine Pause gönnen wird, nachdem er uns so viel berichtet hat. Seine Schilderungen haben uns nun aber wirklich neugierig gemacht…! Außerdem lockt uns eine stimmungsvolle Klaviermusik, die aus dem nächsten Raum zu uns in den Windfang schallt. Wir bedanken uns und und folgen dem Klang der voluminösen Tastenanschläge.

 

Wofür so ein Erker doch alles gut ist, er bietet Platz für einen hübschen Flügel, an dem eine Frau sitzt und dieser Eingangshalle, in der wir uns nun befinden, die richtige Willkommensatmosphäre einhaucht. Sofort halten wir nach dem Butler Ausschau und wollen uns einen Tee bestellen. Doch er kommt nicht. Indes schlendern wir durch diesen behaglichen Raum, Halle ist für diese Dimensionen ein bisschen großzügig umschrieben. Um einen offenen Kamin gesellt sich eine gepolsterte Sitzgruppe, klassische Randmöblierung ziert, nun ja, die Wände. Ursprünglich wurde die Halle wohl in einem dunklen Drachenblutrot gehalten, aber Beales fanden es auf Dauer zu finster. Daher musste der Haus- und Hofarchitekt Webb das Erkerfenster nachrüsten und die Paneele streichen. In diesem weißvertäfelten Raum kommt der typisch englische Stil- und Mustermix richtig zur Geltung.

Promptes Zuhausegefühl, wo bleibt bitte der Butler?! Wir warten vergeblich und beschließen, in das nächste Zimmer zu wechseln. Ah ja, das Herrenzimmer. Das unumstößliche Zentrum ist der gigantische Billiardtisch. Nichtsdestotrotz hat dieser Raum eine unglaubliche Gemütlichkeit, mit seinen Sitzecken, den floralen Morris-Mustern an Wänden und Fenstern, dem Kamin und vor allem der riesigen Bücherwand. Davor reitet ein Schaukelpferd Parade im gestreckten Galopp. Die lederbezogene Nische am Kopfende verlangt nach „Füße hoch und…“ verflixt, wo ist der Butler?!

 

 

 

Stattdessen werden wir von einem älteren Herrn angesprochen, der aus der Ecke am Schreibtisch hervorgekrochen kommt und sich engagiert mit uns zu unterhalten sucht. Wirklich äußerst höflich schildert er uns alles wissenswerte zu diesem Zimmer. Und zum Haus. Das meiste kommt uns jedoch schon bekannt vor. Aber in seiner Euphorie vermögen wir ihn einfach nicht zu unterbrechen, sondern lauschen auch ihm gebannt zu. So vergehen weitere 20 Minuten. Und wir sind erst im zweiten Raum eines riesigen Hauses. Zugeben, wir könnten uns hier den ganzen Tag aufhalten. Mit Tee.

Wir verabschieden uns auch hier höflich und bedanken uns für die spannenden Informationen, die dieser Herr mit uns zu teilen die reine Freude hatte. Zwischen hier und dem Wintergarten ist uns eine kleine Schnaufpause vergönnt und wir begutachten ein Klo. Hierzu gibt es offenbar nicht so viel zu erzählen. Wir durchqueren den schmalen Gang und stehen in einem tageslichterhellten Wintergarten („conservatory“), in dem sich Korbstühle zwischen Fikus und Yukkapalmen, Schwiegermutterstühlen und anderen Kakteen tummeln. Hier schlendern wir einfach durch, draußen regnet es mal wieder und der Regen prasselt auf das Glasdach.

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©misskatesblog Der Wintergarten.

Am Ende des langen schmalen Wintergartens gelangen wir in den „drawing room“, den Salon. Wir dachten schon, die Behaglichkeit des Billiardzimmers sei kaum zu übertreffen gewesen, aber das hier toppt nun wirklich alles. Wenn auch auf den ersten Blick überall nur lauter Muster zu sehen sind, so ist beim zweiten Blick eine perfekte Harmonie zwischen Muster und Möblierung nicht zu leugnen. Die helle räumliche Gesamtgestaltung gleicht die Flut an multiplen Morris-Mustern sogleich wieder aus.

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©misskatesblog Der Drawing Room!

Die Armleuchter wurden eigens für „der Bealesens ihr Wohnzimmer“ von Philip Webb entworfen. Die Sitzecke hinten links am Kamin erkoren wir für unseren Tee aus. Hopsa, da steht ja schon alles fertig! Danke, Butler! Schade, die Teekanne ist leer und die goldbraunen Scones sind aus Plastik. Das Personal ist ja auch nicht mehr das, was es mal war.

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©misskatesblog Die von Philip Webb eigens für die Beales entworfenen Lampen.

Auch dieser Raum inspiriert in seiner heimeligen Pracht einen älteren Herrn uns alles Wissenswerte rund um das Haus und dieses Zimmer zu erzählen. Eines ist besonders faszinierend: Der blumige Teppichboden, auf dem wir stehen, ist gar kein Teppichboden, sondern eine Fotografie. Verblüffend, was die Museumstechnik heute alles so hergibt. Flauschteppichweicher Boden aus PVC, bedruckt mit dem Muster des originalen Teppichbodens, und sogar mit einem Stück des Parkettbodens darunter. Wenn man nicht genau hinsieht, ist es kaum zu merken. Weitere 20 Minuten später gehen wir durch die Halle.

Im Treppenhaus steigen die weichen Stufen hinauf und stehen auf dem hauslangen Korridor der Schlafgemächer. Es war sehr Downton Abbey, nur mit mehr Mustern! So, wie man sich englische Schlafzimmer vorstellt, so sind diese eingerichtet. Metallrahmenbetten und Überwürfe, Kamine und Sessel, Waschtische und Kleiderschränke in einladender Symbiose. Nun nur noch die Schuhe ausziehen und in die wohligen Weichteile werfen…

 

Nachdem wir nun virtuell durch alle Betten gehüpft sind, gehen wir die stolze Treppe wieder hinunter und begeben uns direkt ins Speisezimmer. Auch hier war unser Butler schon aktiv und hat die ganze Tafel mit köstlichen Speisen eingedeckt. Natürlich ebenso echt, wie die Scones im Wohnzimmer. Dieser Raum ist fabelhaft und wirkt wie einem Jane-Austen-Film entsprungen. Ein klassischer englischer Dining Room in einem Tannengrün bei großzügigem Tageslicht; große „dresser“ mit klassischem blau-weißem Service mit chinesischen Dessin säumten die Wände. Gut, die „roasted potatoes“ auf dem Tisch neben dem Brokkoli haben ihre Duft- und Knusperphase bereits hinter sich und sich in der langen Abkühlphase in Kunststoff verwandelt.

 

Nichtsdestotrotz könnte ich, so kurz vor Lunchtime, dort hineinbeißen. Bevor es jedoch soweit kommt, verziehen wir uns in den „Morning room“. Die Herren gehen spielen und die Damen verziehen sich hierher zurück und erledigen ihre Korrespondenz. Bei Live- Radiomusik aus dem Holzkastentransmitter. Ein Raum mit vielen Büchern, Fauteuils, einem Schreibtisch und natürlich einem Kamin. Und wieder überall Morris‘ Spuren im gelungenen Mustermix.

Jetzt sind der Businessroom und die Küche nur noch Formsache. Dieses Haus ist ein Zuhause und eine unerwartete Schönheit, das beweist einmal mehr, Aussehen ist nicht alles.

Jetzt schnell nach Hause, die Koffer packen und -zack- einziehen! Nur das Personal, also da müsste man wirklich noch mal…

 


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